Historie der Waggonia

Waggonia - Eisenbahnwagen in der Frauensiedlung Loheland

Obwohl seit der Gründung der „Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk“ im Jahre 1919 verschiedene Gebäude für den Unterricht, das Wohnen und andere Bereiche gebaut wurden, fehlten weiterhin Räumlichkeiten für Werkstätten. In diesen sollten sich die Frauen neben der Gymnastikausbildung auch im Kunstgewerbe qualifizieren können und Produkte für den Eigenbedarf und den Verkauf herstellen. 

1925 kauften die Loheländerinnen vier ausrangierte Eisenbahnwagen von der „Deutschen Reichsbahn“ und ließen sie nach Loheland bringen. Es waren drei Waggons der vierten Klasse, aus den Jahren 1880-1901, und einer der zweiten Klasse, Baujahr um 1890/1900. Die Loheländerinnen kauften die Wagenkästen aus blechverkleideten Holzgestellen mit Oberlichtern in Dachaufbauten ohne Fahrgestell. Die Waggons wurden über Eck auf einen Sandsteinsockel gestellt, mit Holz verkleidet, mit Durchgängen verbunden und mit Dächern überbaut zu einem neuen Raumgefüge. Die Heizung fand in einem kleinen Keller Platz.

So entstand ein größeres Werkstatt- und Wohnensemble namens „Waggonia“, in der die Schneiderei, die Flickstube, die Lederwerkstatt, die „Lichtbildwerkstatt Loheland“ und Wohnräume für Schülerinnen und eine Musikerin untergebracht waren. Die Werkstätten trugen zur Finanzierung Lohelands in den Zwischenkriegsjahren des letzten Jahrhunderts bei und ergänzten die Ausbildung der jungen Frauen um weitere kreative und handwerkliche Bereiche. Von besonderer Bedeutung war die „Lichtbildwerkstatt Loheland“ in der „Waggonia“, wo die Fotografie zur Dokumentation aller Lebens- und Arbeitsbereiche Lohelands und darüber hinaus als künstlerisches Medium verwendet wurde. Sie trägt so bis heute wesentlich zur Bekanntheit Lohelands über Europa hinaus bei.

Der erste Anbau der „Waggonia“ erfolgte schon in den 30er Jahren, in den eine Hundeküche für die sehr erfolgreiche Doggenzucht der Loheländerinnen einzog. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten weitere Umbauten, insbesondere bei den Fenstern, im sanitären Bereich und bei der Einrichtung von Wohnräumen nach Schließung der Werkstätten. Die kleinen Wohnstuben erinnerten kaum noch an die Werkstätten oder die Eisenbahnwaggons und wurden von Seminaristinnen der Gymnastikschule bis 2009 bewohnt.

Eine bauhistorische Untersuchung brachte 2013/14 erste Erkenntnisse über die im Verborgenen erhaltenen Waggons und den Bauzustand. 2015 wurde die „Waggiona“ als Einzeldenkmal unter Denkmalschutz gestellt und bei einer Fachtagung des Landesamtes für Denkmalpflege vor Ort wissenschaftlich untersucht.

2017 konnten die Restaurierungsarbeiten an der „Waggonia“ beginnen, deren Ziel es war, über der Sicherung des Bestandes hinaus den ursprünglichen Zustand von 1925/26 wiederherzustellen. Dabei wurde zwischenzeitlich die Dacheindeckung, die Holzverkleidung außen und die Raumhülle im Inneren komplett abgenommen. Bei den Arbeiten wurde die äußere Blechverkleidung der Waggons 2019 konserviert und wieder mit der alten Holzschalung belegt. Die alten Hohlpfannen kamen nach der Sanierung der Dachkonstruktion wieder auf das Dach. Die Sockel wurden freigelegt und die Bodenkonstruktion im Inneren der Waggons 2018 restauriert. Fenstereinbauten aus späterer Zeit wurden entfernt und die stark veränderte Fenstergliederung wurde wiederhergestellt. Die erhaltenen Waggonschiebefenster wurden in der Schreinerei von Loheland restauriert und fehlende neugebaut. Auch die historische Holzverkleidung von 1925/26 wurde wieder freigelegt und restauriert. Für die Ende 2023 nahezu abgeschlossene Restaurierung der „Waggonia“ wurde die Loheland-Stiftung finanziell von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, vom Landesamt für Denkmalamt Hessen und durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien als National wertvolles Kulturdenkmal unterstützt.

 

Erster Waggon: Schneiderei und kleine Schülerstube

Gerda Laudi beschrieb die Schneiderwerkstatt wie folgt:

„Man betrat durch einen winzigen Vorraum, in dem die Schuhe ausgezogen wurden, den langen Arbeitsraum, der erhellt war von beiden Seiten durch viele Fenster. Alle Zwischenwände und Bänke waren entfernt. Links standen der große Zuschneidetisch und kleine Tische mit Stühlen für die Handarbeitenden, rechts hintereinander die Nähmaschinen. Am Ende des Nähraumes hinter einer Tür befanden sich Schränke für Stoffe und Nähutensilien.“ (Garda Laudi, Die Loheland Werkstätten, Sonderdruck 2003) 

Die Schneiderei startete 1927 in der „Waggonia“ unter der Leitung einer Schneidermeisterin im Wagen 1 als Lehrbetrieb. Neben Arbeitsschülerinnen der gymnastischen Ausbildung und Lehrlingen waren hier auch Frauen aus den umliegenden Dörfern tätig.

Die Fähigkeit des Schneiderns gehörte schon in dem seit 1912 in Kassel von Hedwig von Rohden und Louise Langgaard gegründeten „Seminar für klassische Gymnastik“ zu den Tätigkeiten der Gymnastikschülerinnen. Sie nähten eigene Kostüme für die Tanzaufführungen am Ende eines Schuljahres und insbesondere für die Gastspiele mit ihren berühmten abstrakten Tänzen in verschiedenen deutschen Städten.

Die in der Lohelandweberei hergestellten Stoffe konnten in der Schneiderei direkt zu verschiedenen Kleidern oder Heimtextilien weiterverarbeitet werden. Sie wurden auf verschiedenen Messen u. a. auf der Grassimesse in Leipzig im Katalog mit Fotos der eigenen Lichtbildwerkstatt und mit Stoffmustern zur Bestellung angeboten. Neben der Alltagsgarderobe entstand in der Schneiderwerkstatt auch die Sportbekleidung für die Loheländerinnen: Seidenkleider in weiß zur Gymnastik bei besonderen Aufführungen.

Die Schneiderwerkstatt befand sich im hinteren Bereich des ersten Waggons, während im vorderen Bereich (heute der Eingang) eine kleine Schülerstube eingerichtet war.

 

Zweiter Waggon: Flickstube und kleine Schülerstube

Vor etwa hundert Jahren gab es noch nicht die massenhafte Kleiderproduktion außerhalb Deutschlands für wenig Geld und die stets kürzere Lebensdauer der Kleidung im Wechsel der Jahreszeiten und Moden. Stoffe waren kostbar und meist noch von Frauen an Nähmaschinen zu Kleidung verarbeitet, so dass der Pflege und dem Erhalt der Bekleidung und Haushaltswäsche große Aufmerksamkeit gewidmet wurde. In Loheland wurden die Tisch- und Bettwäsche, Wandbehänge und Kleider aus Baumwolle, Leinen, Wolle oder Seide nach dem Waschen auf Schäden kontrolliert und repariert.

Die Textilien, die hier im Waggon 2 geflickt wurden, stammten aus den Unterrichtsräumen, den Büros und den Wohn- und Schlafräumen, zu denen auch die Zimmer auf den umliegenden Bauernhöfen der Umgebung gehörten, wo die bis zu 200 Schülerinnen der Gymnastikschule ebenfalls untergebracht waren.

Fotos der Lichtbildwerkstatt Loheland im Katalog, der zur Werbung für die Schule bei der Grassimesse 1935 in Leipzig auslag, zeigen die Stube in der „Waggonia“. Die Einrichtung erfolgte mit modernen, schlichten Möbeln aus der eigenen Schreinerei.

Weitere Produkte der eigenen Werkstätten, wie die Lampen mit den gedrechselten Füßen und den Pergamentlampenschirmen aus der Lederwerkstatt in der „Waggonia“, die bunten Stoffe aus der Weberei und die Vasen aus der Töpferei, trugen zur behaglichen Gestaltung der Räume bei.

 

Dritter Waggon: Lichtbildwerkstatt und Lederwerkstatt

Die Lederwerkstatt

Die Arbeit mit Leder zur Anfertigung von Schuhen hat es schon in den frühen Jahren der Schule gegeben. Imme Heiner kannte schon etwas die Schuhmacherei als sie in das Gymnastikseminar eintrat und liebte es ihren eigenen Worten nach, Hausschuhe anzufertigen. Sie startete während der Zeit in Schloss Bieberstein 1917-18 mit dem Ausbessern vorhandener Schuhe und berichtet weiter: „Besonders im Herbst und im Winter habe ich dann mit allen Schülern Schuhe angefertigt und zurechtgemacht. Ein- oder zweimal in der Woche saßen wir den ganzen Nachmittag im Fechtsaal [von Schloss Bieberstein] und hämmerten und bastelten.“ (Imme Heiner 1982, in: Drei Frauen – Drei Geschichten, Perspektiven auf die frühe Siedlungsgemeinschaft […], S. 79)

In der 1925 neu aufgestellten „Waggonia“ wurde im dritten Waggon eine eigene Lederwerkstatt im vorderen Bereich eingerichtet und diese im gleichen Jahr gewerblich angemeldet. In ihr arbeiteten Lehrschülerinnen, Gymnastikschülerinnen, Ferienkinder oder auch Frauen aus der Umgebung.

Die Lederwerkstatt nähte Taschen, Geld-beutel, Gürtel und Hausschuhe aus verschiedenen Lederarten, wie auch die Lampenschirme aus Pergament. Schlichte und einfache Gestaltung ließen vor allem das unterschiedliche Leder (z. B. vom Rind, Elch, Wild oder Boxkalf) in seiner Materialität wirken. In den 1970er Jahren wurde die Lederwerkstatt zeitgleich mit der Schneiderei
aufgelöst und zu Wohnräumen umgebaut.

 

Die Lichtbildwerkstatt Loheland

“Als 1926 auch der dritte Wagen Anschluss an die Wasserleitung hatte, richtete Valerie Wizlsperger in der hinteren Hälfte die Fotowerkstatt ein. Man staunte, wie in der Enge alles seinen Platz fand, was für eine gute fotografische Arbeit notwendig ist, und dass vier Menschen tätig sein konnten.“ (Elisabeth Hertling 1984, in: Drei Frauen – Drei Geschichten, Perspektiven auf die frühe Siedlungs-gemeinschaft […], S. 185)

Louise Langgaard kannte aus ihrer Dresdner Zeit das technische und künstlerische Potential der noch jungen Fotografietechnik für die öffentlichkeits-wirksamen Bildmedien. Zu Beginn ihrer Lehrtätigkeit am „Seminar für klassische Gymnastik“ 1912 und der Gründung der Schule in Loheland 1919 hatte sie selbst gymnastische Übungen und Tänze fotografiert.

Zeitweise übernahmen auswärtige Fotografen diese Aufgaben. Schon 1924 kam es zur Einrichtung eines provisorischen Fotoateliers im Rundbau, welches im Jahre 1926 als „Lichtbildwerkstatt Loheland“ in den dritten Wagen der „Waggonia“ einzog. Auch in dieser Werkstatt gab es Lehrschülerinnen.

Die Fotoarbeiten der „Lichtbildwerkstatt Loheland“ dokumentierten alle Bereiche der Gymnastikschule, insbesondere auch die Produkte der Werkstätten und die Doggenzucht, den Pflanzenanbau im Garten in Versuchsreihen oder die Phasen der Gymnastikausbildung. Hinzu kamen Porträts der Bewohnerinnen, sowie Aufnahmen der Häuser in Loheland, des Alltags oder von Festdekorationen. Sie trugen in ihrer Entstehungszeit, den zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, wie auch in der heutigen Zeit wesentlich zur Bekanntheit Lohelands bei.

Nach Witzelsbergers Wechsel in die Verwaltung und unter veränderten politischen Verhältnissen wurde die Arbeit der Lichtbildwerkstatt nahezu eingestellt. Ihre Räume im dritten Waggon wurden erst 1982 beim Umbau in Wohnräume für Seminaristinnen leergeräumt und verändert.

 

Vierter Waggon: Arbeits- und Wohnraum von Thea von Heinleth

Musik in Loheland

Im vierten Waggon lebte und arbeitet die Musikerin und Komponistin Thea von Heinleth (1901-1994). Aufgewachsen war sie in Bad Reichenhall und München. Bei ihrem Vater hatte sie Geigenunterricht durchgesetzt und schon während der Schulzeit begann sie mit dem Komponieren. Bei einem Aufenthalt in Hamburg lernte sie die Loheländerin Edith M. Sutor kennen. Sie bewarb sich als Geigenspielerin und kam 1926 nach Loheland. Nach ihrer Gymnastikausbildung unterrichtete sie Musik an der „Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk“ und nach dem Zweiten Weltkrieg auch an der Internatsschule für Kinder. Musik hatte eine konstituierende Rolle innerhalb der Gymnastik, die vom Klavierspiel begleitet wurde.

Im Leben der Gemeinschaft in Loheland spielte die Musik ebenfalls eine zentrale Rolle: die „Montagsmusik“ eröffneten die Woche für alle Mitarbeiter und Kinder im Franziskusbau und an den Festtagen fanden besondere „Festmusiken“ mit Chor- und Orchesterkonzerten ebenda statt. Zur Aufführung wurden klassische Werke von Renaissance bis Romantik gebracht. Aber auch zeitgenössische Musik und Eigenkompositionen wurden gespielt. Sie wurden von Lesungen und Gedichten begleitet.

Thea leitete zusammen mit Hertha Oblasser (1887-1978) viele Jahrzehnte die musikalische Gestaltung der Feste, wie auch den Chor und das Orchester. Für diese und den Schulunterricht schuf sie viele Lieder. Es sind heute über 150 Lieder und eine Anzahl von Solo-, Kammer- und Orchesterstücke von ihr erhalten, die in drei Bänden herausgegeben wurden.

Weitere in den Anfangsjahren in Loheland tätigen Musikerinnen waren u.a. Dorothee Fischer und Marie Therese Witterstätter-Commichau, die die Musik für die zwischen 1919 und 1923 aufgeführten Ausdruckstänze komponiert hatten.

In den 60er Jahren war am Ende des Waggons angebaut worden, um sanitäre Einrichtungen zu schaffen. Nach dem Auszug Theas Anfang der 90er Jahre wurde auch ihre Wohnung als „Schülerstube“ genutzt.

 

Anbauten: Die Hundeküche der Loheländer Doggenzucht und Wäscherei

Die nebenanliegenden Anbauten sind zu verschiedenen Zeiten hinzugefügt worden. Zuerst wurde 1927 ein etwa 1,5m breiter Anbau errichtet, wo eine Hundeküche für die neu beginnende Hundezucht von Doggen untergebracht war. Der Raum wurde in weiteren Anbauten der Nachkriegszeit integriert und völlig verändert. In den größeren Raum war die Wäscherei der Siedlung untergebracht und sein Dachboden wurde für Lagerung der Requisiten der Theateraufführungen genutzt.